1996. Die Abschlussfeier ist da, endlich! Die Schulzeit ist beendet. Jetzt kann ich meine Ausbildung als Friseur starten. Vorab gab es sehr viele Gespräche mit meinen Lehrern. Ich sollte doch lieber weiter zur Schule gehen und mein Abitur machen. Dann würden mir alle Türen offenstehen. Doch ich hatte mir schon früh das Ziel der beruflichen Selbstständigkeit gesetzt: als Friseur.
Deshalb besuchte ich bereits während der Schulzeit Kurse in den Bereichen des Rechtswesens und der Sozialkunde. Bei dem Thema Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände schlug mein Herz höher – für mich stand fest, dass ich mein eigener Herr sein wollte! Das Gewerbe war mir aus meinem Elternhaus vertraut. Mein Vater hat zweieinhalb Friseurbetriebe selbst aufgebaut. Meine Eltern haben mich in meinen Plänen bestärkt, stellten jedoch eine Bedingung für meine Karriere im Friseurhandwerk auf: Ich sollte vorab einen Intensivkurs besuchen.
So fuhr ich nach Nürnberg-Forchheim und blieb dort für ein halbes Jahr auf einem Internat, um das geballte Wissen der Friseurbranche aufzusaugen. Vierzig Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz nahmen an diesem intensiven Kurs teil. Wir alle wollten ihn so schnell wie möglich hinter uns bringen, denn die „Spielregeln“ dieses Internats waren schon etwas speziell in unseren jugendlichen Augen.
Diese Punkte blieben mir im Gedächtnis hängen:
- Jeden Morgen kamen die Lehrer zusammen mit einer Gitarre in der Hand in den Raum und es wurden Lieder gesungen.
- An den Wochenenden gab es Wanderungen und Kulturprogramm.
- Alle sechs Wochen durften wir nach Hause.
- Fünf Rechtschreibfehler auf einer Seite und der Text durfte neu geschrieben werden; übrigens auch, sobald sich nur das Schriftbild verändert hatte.
- Jeden Montag standen Prüfungen an.
- Alkohol trinken und Fernsehen waren untersagt.
Im Alter von 17 Jahren war das eine Herausforderung! Doch beginnen wir ganz vorne. Der erste Tag der Fortbildung stand vor der Tür. Ich stand aufgeregt mit 39 anderen jungen Friseuranwärter und -innen im großen Klassenzimmer. Unsere Eltern saßen mit großen Erwartungen dabei. Die Lehrer kamen in die Klasse und eröffneten die Begegnung mit gemeinsamen Singen. Erst waren wir irritiert, aber die Erfahrung war erstaunlich, denn wir haben uns sofort zusammengehörig gefühlt. Wir alle waren unmittelbar Teil einer riesengroßen Gemeinschaft an Menschen.
Auch der erste Abend in der Fünfer-WG war sehr aufregend und dauerte bis spät in die Nacht. Am nächsten Morgen ging es zusammen mit dem Fahrrad zum Unterricht. Zu fünft radelten wir durch die Innenstadt von Forchheim. Aus jeder Ecke kamen neue Teilnehmer hinzu. Der zweite Tag begann ebenfalls mit großen Erwartungen, diesmal aber ohne unsere Eltern. Na klar, es wurde gesungen, jeder bekam seinen Platz, und wir wurden mit den obigen Spielregeln vertraut gemacht, von denen uns so einige auf den ersten Blick abschreckten.
Doch die sechs Monate in Forchheim vergingen wie im Flug. Wir lernten alle wichtigen Bestandteile der Friseurausbildung kennen. Drei große Ordner voll mit Theorie trugen wir nach Hause, handschriftlich zusammengestellt, versteht sich! Aber nicht nur das ...
Diese Zeit hat meinen Werdegang stark geprägt. Auch heute noch kommt sie mir zu Gute! Gerade wegen der vermeintlich „verrückten“ Spielregeln. Denn rückblickend betrachtet habe ich so manches auch für meinen jetzigen Beruf als Trusted Advisor mitgenommen. Schließlich ging es dort nicht nur ums Haareschneiden, sondern auch um die Gemeinschaft, um die Menschen, mit denen wir zusammen gelernt und gearbeitet haben.
Für mich haben sich aus dieser Zeit einige Grundsätze ergeben, die ich mit dir teilen möchte:
1) Eine Gruppe mit gleichen Spielregeln und gleichen Zielen wächst wahnsinnig schnell zusammen. Jeder, der aus dem Team ausbricht oder einen schlechten Tag hat, wird sofort von der Gruppe getragen. Und glaubt mir, jeder hat mal schlechte Tage.
2) Die gemeinsamen Rituale, wie zum Beispiel das Singen oder Wandern am Wochenende, schweißten das Team zusammen. Genauso wie alle Teilnehmer das Ziel miteinander verbunden hat, den Eltern und der Welt zu beweisen, dass sich die Investitionen in unsere Fortbildungen auszahlen.
3) Der wöchentliche Test nahm uns einen großen Teil der Angst vor Prüfungen. Kontinuierliches Lernen, Arbeiten und Prüfen führt zum Erfolg. Es schafft Selbstvertrauen und Sicherheit.
4) Die Fokussierung auf das Erreichen von Professionalität in Handfertigkeit und Wissen unter Zeitdruck, ließ jeden von uns über sich hinauswachsen. Die von den Lehrern gesetzten Zeitlimits für verschiedene Tätigkeiten spornten uns dazu an, selbst abends im Bett unsere Handgelenke zu trainieren.
5) Durch den Verzicht auf das abendliche Fernsehen wurde uns unerwarteter Freiraum geschenkt, den wir miteinander gestaltet haben.
6) Über längere Zeit gar keinen Alkohol zu trinken, verdeutlichte mir, wie lange es dauert, bis der Körper sich von ihm erholt und wieviel Energie er dafür aufbringen muss, die doch besser für andere Zwecke genutzt werden kann.
7) Die gemeinsame Präsentation von historischen Frisuren auf der Abschlussfeier ließ uns in eine neue Welt eintauchen: Es war ein besonderes Erlebnis, das Ziel, das wir uns gesetzt hatten, gemeinsam erreicht zu haben, und den Erfolg mit anderen teilen zu können. Drei der Teilnehmer waren anschließend mit mir zusammen im WM-Team. Zwei wurden Seminarleiter, wie ich.
Das Internat hat mein Leben verändert und mich vieles gelehrt
Der Erfolg jedes Teams baut auf einem gemeinsamen Ziel auf. Neben Raum für Kreativität und Veränderung braucht es immer auch klare Spielregeln der Zusammenarbeit, auf die sich alle verlassen können. Rituale erzeugen Vertrauen, Gewöhnung und Sicherheit. Wöchentliche Standpunktanalysen motivieren das Team und helfen, den Fokus zu halten. Der klare Blick auf das Ziel und ein festgelegter Zeitraum, es zu erreichen, lassen Menschen über ihre eigenen Grenzen hinauswachsen. Der Verzicht auf unnötige Ablenkung und Genussmittel erzeugt Energie in Körper und Geist. Das Trainieren von Präsentationen und Prüfungen lässt die Angst vor dem Versagen kleiner werden, gibt Sicherheit und schenkt Selbstvertrauen. Besondere Erlebnisse bleiben immer im Herzen und inspirieren bis weit in die Zukunft hinein.
Ich habe den Kurs meinen Eltern zuliebe begonnen und mir zuliebe beendet. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass mich diese Zeit so prägen und mich so viele Dinge lehren würde. Die intensive Internatszeit hat mich gefordert, aber auch in die Zukunft katapultiert. Sie ist ein Meilenstein in meinem Lebensweg.
Hast du ein ähnliches Erlebnis gehabt? Ich freue mich auf deinen Kommentar oder eine Geschichte aus deinem Leben!